Die Keramik-Lok
Einen „Train Kiln“ anzufeuern und für den Keramikbrand zu nutzen, ist ein kräftezehrendes Unterfangen. Davon kann Karl-Heinz Till, der in seinem Atelier im Hofgut Appenborn bei Gießen einen solch archaischen Holzbrandofen betreibt, ein Lied singen. Missen möchte er seine „Lokomotive“ jedoch auf keinen Fall, denn nur sie liefert solch individuelle und jedes Mal überraschende Ergebnisse – ganz ohne Glasur und nur mithilfe der auf den Objekten geschmolzenen Asche.
Vor rund 30 Jahren hat sich Karl-Heinz Till mit seiner Familie in dem historischen Hofgut Appenborn niedergelassen. Das eindrucksvolle Haupthaus aus dem Jahr 1703 liegt an der ehemaligen Poststrecke zum nahegelegenen Vogelsberg und ist heute neben Keramikfans vor allem Literaturliebhabern ein Begriff: Der Dichter Rainer Maria Rilke, der den Sommer 1905 auf Schloss Friedelhausen verbrachte, besuchte das Hofgut im Rahmen eines Tagesausflugs und rühmte seinen Garten anschließend in zahlreichen Briefen und Gedichten. Sogar den alten Segensspruch auf dem Herrenhaus soll er für seine Frau Clara abgeschrieben haben: „Auf hoher See sind große Wellen, verborgene Klippen, strenger Wind; wer klug ist, verlässt nicht die Quellen, die in den grünen Wiesen sind.“
Auch Karl-Heinz Till findet in der Umgebung des Guts immer wieder künstlerische Inspiration, auch wenn sein Weg zur Keramik über Umwege verlief. Als gelernter Tischler unzufrieden, entschied er sich für eine Umschulung zum Ergotherapeuten. Hier kam der gebürtige Frankfurter zum ersten Mal in Kontakt mit Ton. „Und ich merkte sehr schnell: Das ist mein Material,“ erinnert sich Till.
Heute stellt der Autodidakt vor allem Gebrauchskeramik – Vasen, Dosen, Tassen – und dekorative Objekte aus Ton her. „Und dabei baue ich jedes Stück einzeln auf, keines meiner Werke entsteht an der Drehscheibe,“ erklärt Till. „Der Prozess ist so für mich viel flexibler, ja sogar spielerischer. Oft ergeben sich erst im Entstehungsprozess neue kreative Ideen.“
Eine ständige feine Auswahl seiner Keramiken zeigt der Künstler im Eingangsbereich seines Wohnhauses. Wer durch die imposante Holztür tritt, kann sich einen Eindruck von der sehr eigenen Formsprache, die Till über die Jahre entwickelt hat, machen. „Ein Aspekt ist sicherlich der, dass ich von Anfang an nur mit Holz gebrannt habe,“ so Till. „Zunächst im Lagerfeuer und in Freifeuerbränden, dann habe ich mir im Garten einen kleinen Ofen in den Hang gegraben.“
Doch die Temperatur stieg darin nie über 1.200 Grad Celsius, darum baute sich Till im Jahr 2013 gemeinsam mit den Kollegen Schweikhard, Limbeck, Scheid und Böhmer sowie zwei eigens aus Australien eingeflogenen Experten einen so genannten „Train Kiln“. Dieser besondere Brennofen hat tatsächlich die Form einer Lokomotive, wird von oben mit Holz beschickt und über viele Stunden allmählich auf bis zu 1.400 Grad aufgeheizt.
Etwa ein Kubikmeter Holz verschlingt Tills „Lokomotive“ pro Brand unter Schnaufen, Stöhnen und Rasseln – nach dem etwa 20-stündigen Brennprozess bleibt davon nicht mehr als ein Eimerchen Asche zurück. Und Keramiken, die durch die geschmolzene Asche einen immer wieder neuen und überraschenden Look erhalten. „Das größte Kompliment, das mir mal ein Kunde gemacht hat, war: ‚Mir läuft beim Anblick der Keramik das Wasser im Mund zusammen‘,“ schmunzelt Karl-Heinz Till.
Das Hofgut Appenborn gehört zu den Gießener Lahntälern.