Die Hüter des guten Tons
Zu Besuch bei der Glockengießerei Rincker
Den richtigen Ton zu treffen ist eine Kunst. Das gilt nicht nur in der internationalen Diplomatie, sondern auch für das Glockengießerhandwerk. Familie Rincker im Dörfchen Sinn arbeitet seit dem Jahre 1590 in der Branche. Damit sind sie die älteste in Familienbesitz befindliche Glockengießerei Europas und eine von nur vieren in ganz Deutschland. Seit mindestens 14 Generationen wird das sorgfältig gehütete Geheimnis um die perfekte Glocke vom Vater zum Sohn weitergereicht.
Entsprechend gut kennen sich die beiden Brüder Hanns-Martin und Fritz-Georg Rincker in ihrem Metier aus. Wer ihnen und den rund 25 Mitarbeitern bei der Arbeit über die Schulter schauen möchte, ist in der Werkstatt hinter dem großen Tor herzlich willkommen. Ab einer Gruppengröße von zehn Personen können an allen Wochentagen Führungen gebucht werden.
Wer Glück hat, den führt Hanns-Martin Rincker, der ältere der beiden Brüder, persönlich durch die Werkstatt: „Es ist natürlich immer dem Zufall überlassen, an welchem der verschiedenen Produktionsschritte wir gerade arbeiten,“ erklärt er. „Das kann die Herstellung des Glockenprofils sein, das Aufmauern des Kerns aus Lehmsteinen, das Auffüllen der Modellglocke oder die Formung des Mantels.“
Ein Highlight, das bei der Firma Rincker etwa fünf oder sechs Mal im Jahr vorkommt, ist der Guss einer Glocke. „Bis es soweit ist, können – je nach Größe der Glocke – schon mal sechs bis acht, manchmal sogar zwölf oder 15 Vorbereitungswochen ins Land gehen,“ verrät Rincker.
Irgendwann ist es dann soweit: „Festgemauert in der Erden steht die Form aus Lehm gebrannt“. So beschreibt es Friedrich Schiller in seinem Lied von der Glocke – und so läuft es auch heute noch bei Rinckers im Dilltal. „Was Schiller da beschreibt, das ist technisch gesehen bis heute gültig,“ sagt Hanns-Martin Rincker. Anders ausgedrückt: „Wenn unser Gründer auferstehen und in unserem heutigen Betrieb vorbeischauen würde, dann könnte er theoretisch direkt wieder mit einsteigen.“
Dennoch ist jeder Guss ein Highlight und mit ein wenig Nervenkitzel verbunden. Oft sind Vertreter der jeweiligen Kirchengemeinde dabei, die den Vorgang mit Gebeten begleiten. Doch beten allein reicht nicht aus. Für den perfekten Guss ist jahrhundertealtes Familien-Knowhow erforderlich: „Wir müssen mit den Füßen fühlen, wie sich die Form füllt, und genau hinhören, ob sich Luftbläschen im flüssigen Metall bilden. Das erkennen gute Gussmeister an den Gluckergeräuschen,“ erklärt Fritz-Georg Rincker, der jüngere der beiden Brüder. Er ist kaufmännischer Geschäftsführer, sein Sohn Christian arbeitet ebenfalls im Familienbetrieb und gehört bereits der nächsten Glockengießergeneration an.
Wie die Glocke schließlich klingt, stellt sich erst nach vier langen Tagen des Wartens heraus und hängt von vielen Faktoren ab: Form und Profil beeinflussen ihren Klang ebenso wie das Material, aus dem sie besteht. Doch wenn beim Guss alles gut geht, dann treffen die Rinckers den gewünschten Ton auf den sechzehntel Halbton genau.
„Manche Leute erzählen mir, sie seien unmusikalisch und könnten keine Unterschiede heraushören. Aber das ist Quatsch,“ so Rincker senior. „Vielleicht haben sie keine musikalische Bildung, aber sie werden definitiv die Unterschiede zwischen einer Stahl- oder Eisen- und einer Bronzeglocke erkennen können.“
So wie die Einwohner von Dillenburg zum Beispiel, deren neue Kirchenglocken die Firma Rincker gerade installiert hat. „Viele Bürger, die beim Stimmen zugehört haben, kamen hinterher auf mich zu und haben sich bedankt. Die neuen Bronzeglocken seien Musik in ihren Ohren und kein Vergleich zu den alten Stahlglocken, die im letzten Jahrhundert – vermutlich aus Kostengründen – eingebaut worden waren.“
Bei der Glockengießerei Rincker arbeitet man nur mit Bronze. Dabei handelt es sich eigentlich um eine Kupfer-Zinn-Legierung, wie Hanns-Martin Rincker verrät. „Das ist ein nahezu unvergängliches Material,“ schwärmt er. „So fand man in der heutigen Provinz Wuhan ein Fürstengrab aus dem Jahr 3.500 vor Christus. Diesem Grab hatte man neben etlichen Tonkriegern unter anderem ein Glockenspiel aus 64 Bronzeglocken beigefügt. Und das zeigte trotz der vergleichsweise hohen Feuchtigkeit selbst nach über 5.000 Jahren fast keinerlei Spuren von Korrosion!“
Welchen Ton eine Glocke hat, hängt aber auch mit ihrer Größe zusammen. Allgemein lässt sich sagen: Kleinere Glocken klingen höher, größere tiefer. Aber: „Wenn eine Glocke zum Beispiel nur eine Oktave tiefer als eine andere klingen soll, dann verdoppelt sich ihre Größe und ihr Gewicht verachtfacht sich.“
Kurzum: Wer sich mit Hanns-Martin Rincker unterhält, trifft auf eine Art wandelndes Glockenlexikon. Egal ob Geschichte, Literatur, Mathematik, Musik oder Produktion – keine Frage, auf die Rincker keine interessante Antwort oder passende Anekdote zum besten geben kann.
Wer neugierig geworden ist, sollte neben der Werkstatt in Sinn unbedingt auch die Glockenwelt auf der benachbarten Burg Greifenstein besuchen. Hier finden sich fast 100 Glocken, darunter viele ausgediente Rincker-Glocken aus den letzten Jahrhunderten. „Die Glocken, die uns über Jahre hinweg von den Gemeinden zum Einschmelzen zurückgebracht wurden, stapelten sich früher einfach bei uns auf dem Hof,“ erinnert sich Rincker. „Doch das wurde irgendwann zu viel und auch gefährlich, denn in den 60er Jahren begannen sich die Metalldiebstähle zu häufen.“
Als 1969 der Vater der beiden Rincker-Brüder gemeinsam mit weiteren Privatleuten den Greifenstein-Verein gründete und die sanierungsbedürftige Burg für eine symbolische DM kaufte, war ein passender Ort für die Ausstellung der Instrumente gefunden. Heute können Besucher hier durch die deutsche Glockengeschichte spazieren, zahlreiche Exponate von der Kirchen- über die Kuh- bis hin zur Feuerwehrglocke bestaunen und ausdrücklich auch ausprobieren.
Bei der ältesten Glocke der Ausstellung handelt es sich um ein eintausendjähriges Modell in Bienenkorbform, so wie sie heute in buddhistisch und hinduistisch geprägten Ländern noch immer hergestellt werden. Auch eine Zuckerhut-Glocke oder eine gotische Drei-Klang-Rippe zählen zu den Ausstellungsstücken.
Die Kleinsten finden in einer speziellen Nische unter anderem ein Röhrenglockenspiel sowie ein Klangmemory. Zum Abschluss gibt Hanns-Martin Rincker den Kids auch noch einen Suchauftrag mit auf den Weg: In dem eigens gezeichneten Comic, in dem die Mäuse Bim und Bam auf kindgerechte Weise die Glockenherstellung erklären, findet sich eine Szene, die als Hommage an den passionierten Glockengießermeister zu verstehen ist: Eine Maus mit Bäuchlein und Zwirbelbart ist Rincker senior wie aus dem Gesicht geschnitten…
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