Rendezvous mit dem Gestern – sechs filmreife Industriegeschichten aus dem Lahntal
Vergangenheit und Gegenwart verweben sich im Lahntal auf faszinierende Weise. Unter dem Motto „Geschichten zum Staunen“ enthüllen sechs bewegende Kurzfilme die verborgenen Schätze der regionalen Industriekultur. Tourismusmanager Jörg Wegerhoff erklärt, wie es zu dem Projekt kam und was die Zuschauer erwartet.
„Ich erinnere mich noch genau,“ erzählt Wegerhoff, „wie unser Team in der Corona-Zeit zusammenkam, um die entstandenen kreativen Freiräume bestmöglich zu nutzen. Wir stellten uns Fragen wie: ‚Was genau macht eigentlich unsere Lahntaler Identität aus? Wie haben Bergbaugeschichte, Industrialisierung und die anfangs noch unerschlossene geographische Lage, aber auch das harte Leben auf dem Land den Charakter der Menschen geprägt?‘ Wir kamen dann relativ schnell auf die Idee, diesen Fragen in kurzen Filmen nachzugehen, um sie einer breiteren Menge Menschen zugänglich zu machen.“
Das ebenso emotionale wie stimmungsvolle Ergebnis berührt Jung und Alt gleichermaßen: In den sechs Filmen schildern ganz unterschiedliche Protagonisten auf sehr nahbare und persönliche Weise ihre Erinnerungen an den Alltag ihrer Kindheit.
So beschreibt etwa im ersten Film Joachim Hartmann (1941-2023), selbst Kind einer Bergbaufamilie, in der ehemaligen Grube Ypsilanta im Scheldetal, welchen entscheidenden Einfluss der Bergbau auf die Gesamtentwicklung der Region hatte. Und auf fast magische Weise kristallisierte sich während der Dreharbeiten von ganz allein ein roter Faden heraus: „Uns wurde plötzlich klar: Mit dem Bergbau fing alles an – ohne ihn hätte es keine Eisenbahn gegeben, keine Elektrizität, keine Infrastruktur und erst recht keine moderne Industrie,“ fasst Jörg Wegerhoff zusammen.
Im zweiten Kurzfilm kommt der ehemalige Grundschulleiter Markus Hemberger, dessen eigener Schulweg eng mit der der Eisenbahn verknüpft war, zu Wort: „Die Bahn war die Lebensader der Eisenerzfabriken, die einerseits Rohstoffe brachte und die fertigen Produkte abtransportierte, gleichzeitig aber auch die Arbeiter hin- und her beförderte. Außerdem sorgte sie dafür, dass viele Kinder in die Schule kamen und dort ihr volles Potenzial entfalten konnten.“
Welchen Einfluss der Bergbau auf die familiären Verhältnisse hatte, beschreibt Teil drei der Serie. Hannelore Rink erinnert sich an den harten Alltag der Frauen, die meist nicht nur Kinder und Hof zu versorgen hatten, sondern auch noch nachts Strümpfe für den Verkauf strickten, um finanziell über die Runden zu kommen.
In Teil vier beschreibt Heimatforscher Harro Schäfer im typischen Dialekt die Besonderheiten der Hauberge: Diese sehr nachhaltige Waldwirtschaftsform, die nur im Siegerland und den angrenzenden Regionen vorkommt, zählt seit 2018 sogar zum nationalen Immateriellen Kulturerbe. „Der Begriff Hauberg kommt von ‚abhauen‘,“ erläutert Jörg Wegerhoff, „denn hier wurden in festem Turnus hauptsächlich Birken und Eichen oberhalb der Wurzel abgeschlagen, deren Holz für die Hochöfen und Möbelproduktion gebraucht wurde.“
Zeitzeugin Anneliese Müller-Ehrlich erinnert sich im fünften Teil lebhaft wie erstmals Ortschaften mit fließendem Wasser und Elektrizität versorgt werden konnten, indem man die Abwärme der Hochöfen nutzte, um Strom zu gewinnen. „Vieles, was heute selbstverständlich ist, war früher harte und mühevolle Arbeit. Jeder Eimer Wasser musste aus dem Brunnen befördert und ins Haus geschleppt werden – die Frauen stöhnten unter dieser Last.“
Teil sechs spannt schließlich den Bogen in die Neuzeit: Dr. Felix Heusler, Geschäftsführer der Isabellenhütte in Dillenburg, dem ältesten hessischen Industrieunternehmen und weltweit führendem Anbieter für messtechnische Systeme, fühlt sich den Ursprüngen des Familienunternehmens bis heute bei sämtlichen Unternehmensentscheidungen verpflichtet. Schließlich liegen die Wurzeln in der 1482 gegründeten Kupferschmelzhütte, und nur nachhaltiges Handeln bewahrt dieses Erbe auch für die kommenden Generationen.
So ist denn Jörg Wegerhoff mit dem Ergebnis des filmischen Projektes auch mehr als zufrieden: „Wir haben hier als kreatives Team ein Zeitdokument geschaffen, das die industriellen Ursprünge unserer Region auf emotionale Weise für die Nachwelt festhält. Das Feedback, das wir erhalten, zeigt, dass sich besonders die junge Generation davon angesprochen fühlt – und das werten wir als riesigen Erfolg!“
Alle Kurzfilme können hier angesehen werden.
Der Naturpark Lahn-Dill-Bergland hat zusammen mit dem Fotografen Jan Bosch die Fotoausstellung „Geschichten zum Staunen“ entwickelt, die einen faszinierenden Einblick in die Industriegeschichte der Region vermittelt. Jan Bosch hat eindrucksvolle Spuren von ehemaligen Grubenstandorten, Eisenbahnstrecken und den Haubergen eingefangen, die heute noch sichtbar und erlebbar sind. Historische Fotografien aus dem Netzwerk der Industriekultur Mittelhessen werfen einen detaillierten Blick auf die Veränderungen, die das Gebiet durch den Bergbau erlebte. Ergänzend dazu werden die sechs Kurzfilme gezeigt.
Das filmische Projekt wurde gefördert vom Europäischen Landwirtschaftsfond für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) und umgesetzt durch die Marburg Stadt und Land Tourismus GmbH, den Landkreis Marburg-Biedenkopf sowie den Region Lahn-Dill-Bergland e. V.