LOTTE IN WETZLAR
Mit der jungen Charlotte Buff die Altstadt kennenlernen: Wir trafen die Darstellerin Julia Jahn.
Spricht man von der „Goethestadt Wetzlar“, so taucht man ein in vergangene Zeiten, in das Jahr 1772. Der junge Dichter Johann Wolfgang Goethe kam Anfang Mai in die Stadt, um sich der Juristerei zu widmen – so wollte es sein Vater. Doch nicht die Welt der Paragraphen nahm ihn gefangen, sondern die Liebe zu Charlotte Buff. Am 9. Juni lernte er die junge Frau auf einer Tanzveranstaltung im nahegelegenen Volpertshausen kennen. Eine klassische Liebesgeschichte war es nicht: Charlotte Buff war verlobt, die Liebe blieb unerwidert. In seinem Roman „Die Leiden des jungen Werther“ verarbeitete Goethe später die Begegnung. Wir haben die heutige „Lotte“ in Wetzlar getroffen, sie sogar in ihrem Haus besucht und können jetzt durchaus nachvollziehen, warum Goethe damals dahinschmolz.
Schönheit, Charme und Eleganz – all diese Eigenschaften bringt Julia Jahn für die Rolle der jungen Lotte mit. Sie ist 29 und führt als Charlotte Buff seit knapp 10 Jahren Touristen durch Wetzlar. In der Sommersaison schlüpft die schlanke Frau mit dem Gardemaß von 1,85 Metern in das cremefarbene lange Kleid. Das blonde Haar hochgesteckt, die Lippen rot geschminkt. Wo sie auch auftaucht, begeisterte Blicke, gezückte Kameras und bewundernde Rufe: „Da…. ist sie!“ Julia Jahn genießt die Rolle. „Ich bin sehr heimatverbunden, hier aufgewachsen und kenne jeden Winkel“, erklärt sie. Ihr ist daran gelegen, ihre Aufgabe mit Humor zu füllen. „Das ist keine trockene Stadtführung, die Leute sollen lachen“, erläutert sie. Und das gelingt fast immer: „Goethe handelte immer, wie es ihm gerade einfiel, ohne Rücksicht auf andere oder auf den guten Ton. Hier in Wetzlar lief er manchmal im pfirsischblütenen Gehrock durch die Gassen, wie ein Zieräffchen. Na, zumindest hat er dann überhaupt etwas angehabt, der soll ja gerne nackt gebadet haben, wer weiß, ob er nicht wie ein Nackedei hier in der Lahn herumgeplanscht ist.“ Rückblickend auf den Abend des Zusammentreffens beim Ball in Volpertshausen meint die junge Lotte bei der Stadtführung: „Hätte ich gewusst, dass mir der Goethe nach diesem Tag nie wieder von der Seite weicht, ich hätt‘ am besagten Abend Kopfübel gekriegt und wär daheim geblieben, aber nein, ich wollt ja was erleben!“
Ihren halbstündigen Vortrag gestaltet sie komplett auswendig. Damit jedes Wort sitzt und alles aufeinander aufbaut, ist regelmäßiges Textlernen angesagt. Verhaspeln mag sich Julia Jahn nicht, Raum für Improvisationen gibt es kaum: „Der Ablauf lässt das nicht zu“, erläutert sie. Die beste Lernpartnerin für Julia Jahn ist ihre Mutter. Das Interesse an der Lotte-Rolle ist vererbt. Auch ihre Mutter spielte früher die Rolle der jungen Lotte und hat den Text noch verinnerlicht. „Wenn ich Lotte-Text lerne, dann lernt meine gesamte Umgebung mit“, lässt uns Julia Jahn wissen. Inzwischen ist sie selbst Mutter der knapp vierjährigen Tochter Lotta. Ob diese einmal in die Fußstapfen von Mama und Oma tritt – wer weiß. „Wenn sich die Leute unterhalten fühlen, sich freuen und Spaß an der Sache haben, gibt mir das viel“, erklärt Julia Jahn. „Den Besuchern unsere Stadt mit ihrer Geschichte näherzubringen – das bedeutet mir etwas.“ Ihre Leidenschaft pausierte nicht einmal während ihrer Schwangerschaft. „Das Kleid wurde mit meinem Bauchumfang mehrmals geändert.“
Die Stadtführungen mit der jungen Lotte und anderen Figuren in historischen Kostümen kann man von Mai bis Oktober buchen: Als Geschenk, zu Jubiläen, zu Betriebsfeiern. Zwischen zwei und 25 Personen nehmen regelmäßig daran teil. Die Nachfrage ist groß, sodass sich Julia Jahn ihre Lotte-Rolle mit mehreren Kolleginnen teilt. Sie alle gehören zum Ensemble der Wetzlarer „Erlebnis-Statt-Führungen“ unter Regie von Oliver Meyer-Ellendt. Bei Interesse an Kostümführungen wendet man sich am besten an die Wetzlarer Tourist-Information. Dort startet auch der Altstadt-Rundgang mit Lotte, führt weiter hinter den Dom, auf den Domplatz, an den Brunnen am Domplatz und vor den Dom-Eingang. Weiter geht es zur Michaels-Kapelle und durch die Pfaffengasse. Am Lottehof, vor dem Lotte-Haus, endet die Stadtführung. Das Lotte-Haus selbst ist heute ein Museum. Hier wurde Charlotte Buff 1753 geboren und wohnte bis zu ihrer Heirat mit Christian Kestner im Jahre 1773 dort. Mit ihm verließ sie Wetzlar in Richtung Hannover. Ihre Geschichte im Lahntal lebt weiter.
Text: Angela Heinemann
Fotos: Jan Bosch